Bundesverfassungsgericht zur zeitlich unbegrenzten Beitragserhebungsmöglichkeit nach Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage – verfassungsrechtliche Erwägungen

In seinem Beschluss vom 03.11.2021 – 1 BvL 1/19 (bereits besprochen durch den Kollegen Herrn Rechtsanwalt Raden in unserer Mandantenzeitschrift 01/2022, S. 16 f.) stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz eine für den Beitragspflichtigen erkennbare zeitliche Begrenzung der Möglichkeit zur Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach dem Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage erfordert. Den Landesgesetzgeber verpflichtete das Bundesverfassungsgericht, eine verfassungsgemäße Regelung bis zum 31.07.2022 zu treffen.

Grund für das mit dem Beschluss entschiedene Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht war die Möglichkeit der zeitlich unbegrenzten Erhebung von Erschließungsbeiträgen nach dem Eintritt der tatsächlichen Vorteilslage nach dem Kommunalabgabengesetz des Landes Rheinland-Pfalz. Sofern also zwar die technischen Voraussetzungen gegeben waren, jedoch nicht die rechtlichen Voraussetzungen der Erschließungsbeitragspflicht, war die Erhebung der Erschließungsbeiträge zeitlich unbegrenzt möglich. Die vierjährige Festsetzungsfrist begann erst ab dem Vorliegen aller – also technischer und rechtlicher – Voraussetzungen. Andere Länder, wie etwa der Freistaat Sachsen mit 20 Jahren gemäß § 3a Abs. 3 SächsKAG – jedoch nur unter „Ausklammerung“ der Beitragssatzung –, haben sich hingegen überwiegend für Fristlängen von zehn bis 20 Jahren entschieden.

Im zugrunde liegenden Fall trat - vereinfacht dargestellt - die tatsächliche Vorteilslage, also die tatsächliche Beendigung der Baumaßnahmen, im Jahr 1986 ein. Die Erschließungsbeiträge wurden zunächst im Jahr 2007 infolge der Widmung der 1986 errichteten Straße festgesetzt, infolge eines gerichtlichen Verfahrens aufgehoben und erneut festgesetzt im Jahr 2011.

Das Bundesverwaltungsgericht führt aus, dass das Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot der Rechtssicherheit das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen Rechte gelte. Die Bürger sollen die ihnen gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können. In der hier maßgeblichen Ausprägung bedeute dies, dass die Bürger vor der Inanspruchnahme wegen lange zurückliegenden, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossenen Vorgängen geschützt werden müssten. Der Gesetzgeber sei demnach in der Pflicht, dies sich an der Regelung zu treffen, um die berechtigten Interessen der Allgemeinheit am Vorteilsausgleich und des Einzelnen an Rechtssicherheit in Ausgleich zu bringen.

Diesem – hier in den Grundzügen dargestellten – Maßstab genüge das Kommunalabgabengesetz des Landes Rheinland-Pfalz nicht. Auch aus sonstigen Regelungen, beispielsweise aus analoger Anwendung von Verjährungsregelungen anderer Gesetze oder dem Grundsatz von Treu und Glauben, sei eine zeitliche Befristung etwa für die vorliegende Beitragserhebung nicht herzuleiten. Weiter führt das Bundesverfassungsgericht aus, dass eine entsprechend zu treffende Regelung jedenfalls eine Frist von unter 30 Jahren vorsehen müsse.

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