Grundgesetz und Klavierspiel am Sonntag

Das Bundesverfassungsgericht hatte im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde am 17.11.2009, AZ: 1 BvR 2717/08, über folgenden Sachverhalt zu entscheiden:

Der Beschwerdeführer bewohnt mit seiner Frau und sechs Kindern ein Reihenhaus in Berlin. Nach dem Beschwerdevorbringen sind alle Familienmitglieder „musikbegeistert, einige praktizierende Musiker“. Die Tochter des Beschwerdeführers übt jeden Tag am späten Nachmittag für etwa eine Stunde Klavier. Als sie an einem Sonntag im Februar 2008 wiederum Klavier übte, rief der Nachbar, der sich durch das Klavierspiel gestört fühlte, nach ca. 1/2 bis 3/4 Stunde die Polizei. Nachdem die Polizeibeamten gegangen waren, übte die Tochter noch ca. 15 Minuten weiter Klavier. Das zuständige Bezirksamt setzte wegen eines vorsätzlichen Verstoßes gegen das Verbot, an Sonn- und Feiertagen Lärm zu verursachen, durch den jemand in seiner Ruhe erheblich gestört wird [§ 4 Landes-Immissionsschutzgesetz Berlin (LImSchG Bln)], eine Geldbuße in Höhe von 75,00 € gegen den Beschwerdeführer fest. Auf seinen Einspruch hin reduzierte das Amtsgericht die Geldbuße auf 50,00 €. Der vor dem Amtsgericht als Zeuge vernommene Polizeibeamte bekundete, dass er das von ihm wahrgenommene Klavierspiel wie der Nachbar als störend empfunden habe. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wurde vom Kammergericht verworfen.

Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat auf die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeverfahrens das Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückverwiesen. Das Urteil des Amtsgerichts verletze den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 102 Abs. 2 GG. Diese Bestimmung lautet:

Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Das Amtsgericht habe die §§ 4, 15 Abs. 1 Nr. 4 LImSchG Bln in nicht verfassungsgemäßer Weise angewendet. Bei der vom Amtsgericht vorgenommenen Rechtsanwendung im vorliegenden Fall sei für den Normadressaten nicht hinreichend erkennbar, wann das Musizieren in der eigenen Wohnung an Sonn- und Feiertagen eine „erhebliche Ruhestörung“ im Sinne von § 4 LImschG Bln darstelle. Die Entscheidung darüber, ob eine „erhebliche Ruhestörung“ vorliege, habe das Amtsgericht dem als Zeugen vernommenen Polizeibeamten überlassen. Das Amtsgericht habe keinen Versuch unternommen, den normativen Gehalt des auslegungsbedürftigen Begriffs „erhebliche Ruhestörung“ zu erfassen und dieses Tatbestandsmerkmal auch im Hinblick auf das Musizieren in der eigenen Wohnung begrifflich zu präzisieren.

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist für die Adressaten eines Bußgeldbescheides sehr erfreulich. Ohne generalisieren zu wollen, neigen Amtsgerichte in Bußgeldverfahren durchaus dazu, die eigene rechtliche Prüfung – vorsichtig formuliert – auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Dieses Vorgehen hat allerdings – wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zeigt – verfassungsrechtliche Grenzen. Das Amtsgericht muss – so die Konsequenz aus dieser Entscheidung – erkennbar den Sachverhalt rechtlich würdigen. Unterlässt das Gericht eine solche Würdigung, kann dem Betroffenen nach Erschöpfung des Rechtsweges immer noch die Verfassungsbeschwerde offen stehen.

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